Einführung in das Werk

Zoom auf Malerei

Es gibt Malerei, die darstellt: eine Schlachtenszene, die Kreuzigung, ein Stilleben, ein Porträt, ein Quadrat, eine monochrome Fläche, einen musikalischen Klang, die inneren Regungen des Künstlers, die Farbe Weiss, ein malerisches Konzept, die Unmöglichkeit zu malen. Und es gibt Malerei, die nicht(s) darstellt. Weilenmann stellt nichts dar, er führt uns die Auflösung des Darstellungsprozesses vor Augen.

Das Hauptmerkmal seiner Gemälde ist das Unscharfe, das Verfliessende, das Verschwommene. Die Verwischungseffekte sind aber nicht auf irgendeine Dysfunktion zurückzuführen, auf eine Sehstörung des Künstlers etwa, oder, von der fotografischen Praxis her formuliert, auf eine akzidentielle Verschiebung der Linse, atmosphärische Turbulenzen, die Bewegung des Motivs oder die falsch eingestellte Brennweite. Die verwischten Bilder Weilenmanns sind gemalt. Es sind keine scharfen Bilder, die dann verunklärt wurden, sondern verwischt gemalte – bewusst vermalte – Bilder.

Unschärfe zwingt den Blick, sich zu konzentrieren, zu fokussieren. Der Künstler stellt dem Bildbetrachter zwei Werkzeuge zur Verfügung, die es ihm traditionellerweise erlauben, seinen Blick zu orten: Farben und Formen. Unter den Formen sind es vor allem Punkte oder Kugeln und Gitterstrukturen, d.h. grundlegende Elemente der klassischen euklidischen Geometrie, die dazu dienen, eine Position im physikalischen oder abstrakten Raum zu bestimmen. Auf den Kugeln gleitet der Blick erfahrungsgemäss ab, im Gitter wird er gefangen. Verflacht sich die Kugel zum Punkt, so wird sie ebenfalls zum Blickfang,

zum farbigen Anhaltspunkt. Weilenmann benützt nun diese Instrumente, um unseren Blick zu verunsichern, eine Ortung zu verunmöglichen. Damit praktiziert er genau das Gegenteil von Geometrie, nämlich Malerei. Denn Malerei ermöglicht das Verschwimmen des Gitters und der Ordnung, das Auflösen der Kugel und des Punktes. Der Maler darf frei über die geometrischen Elemente verfügen und sie spannungsvoll miteinander kombinieren, indem er zum Beispiel Kugeln und Stäbe verstreut auf der Fläche/im Raum schweben lässt, mit Punkten eine „unlogische“ Struktur evoziert – wie etwa die komplexer Molekularverbindungen – oder vertikale Stäbe durch aneinandergereihte Punkte auflöst.

Das zweite Element, das dem Bildbetrachter in der Malerei eine Standortbestimmung ermöglicht, ist die Farbe. Auch hier pervertiert Weilenmann das klassische System, demzufolge warme Farben nach vorne drängen und kalte Farben zurückweichen und somit räumliche Tiefe schaffen. So lässt er etwa grÜnliche und bläuliche Punkte vor einem roten Hintergrund schweben oder Dunkelblau aus Rosa hervortreten. Überhaupt gehören die Farben in ein „unreines“ Register. Es sind beinahe alles schwer definierbare Mischfarben: Olivgrün, Petroleumblau, schmutziges Gelb, Altrosa, ein beinahe venezianisch zu

nennendes Spektrum. Die Bilder Harry Jo Weilenmanns sind von einer durchgängigen Logik geprägt: Zum Verwischen der geometrischen Formen gehört das „Verunreinigen“ der Farben und die räumliche Verunklärung.

Überspitzt formuliert besitzen diese Gemälde keine Form, keine Farbe, keine Tiefe und somit auch keinen Raum. Vor ihnen gibt es keinen idealen Standpunkt, bloss ein Wechselspiel von Annäherung und Distanznahme, das jegliche Orientierung unterbindet. Der Raum fluktuiert nicht nur im Bild, sondern auch – infolge der erzwungenen Mobilität des Betrachters – vor dem Bild und um das Bild herum. Die verschwommene Erscheinung postuliert geradezu einen unfassbaren, sich unserer Wahrnehmung ständig entziehenden Raum, von dem das Bild bloss einen Ausschnitt darstellt. Dieser Ausschnitt muss daher auch doppelt stimmen: als in sich geschlossenes Bild und als über sich hinausweisendes Fragment. Es definiert einen Raum, bildgross zwar, doch zwischen Makro- und Mikrokosmos fluktuierend, einen Raum (in bezug auf unsere Sinne) unerreichbarer Sphären. Die halluzinatorische, ja, warum nicht: psychedelische Malerei Weilenmanns fordert unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Vorstellungskraft heraus.

Das für die Bilder dieses Künstlers so charakteristische Schweben, Schwimmen, Fluten, In-der-Luft-/ Im-Wasser-Treiben, die Spannung zwischen Verdichtung und Verflüssigung, ist schliesslich auch eine Metapher für Malerei. Vom chemisch-physikalischen Standpunkt aus bedeutet Malen nichts anderes, als eine Substanz vom flüssigen in den festen Zustand

zu überführen. Die dickflüssige Farbe entwickelt sich beim Trocknen zur harten Kruste. Durch das Verwischen wird dieser Urzustand der Farbsubstanz in Erinnerung gerufen und gleichzeitig Malerei als ein unfassbares Phänomen dargestellt, das zwar eine konkrete physische Realität besitzt, sich uns aber ständig entzieht: Malerei als das Sich-Zeigende und Sich-Verhüllende und damit ihre Unbeständigkeit Enthüllende; Malerei als das in sinnlicher Anschauung unmittelbar Gegebene, das auf keine andere Realität zurückzuführen ist.

Die Bilder Harry Jo Weilenmanns sind weder vollendet noch unvollendet: fixiertes Entschwinden, wahrgenommenes Erfassungsunvermögen, transitorische Präsenz. Weilenmann stellt nichts dar, er malt die Unmöglichkeit, einer Sache ansichtig zu werden.

Bernhard Fibicher